Wackelpudding mit Gedächtnis – Verlaufsvorhersage für handelsübliche Lacke

Mediendienst Dezember 2017 /

Mit einem am Fraunhofer IPA entwickelten neuartigen Mess- und Auswerteverfahren kann erstmals für alle Lacke das Verlaufsverhalten aus den Lackeigenschaften vorhergesagt werden. Bei der Entwicklung eines Lackes können mit dem Verfahren durchschnittlich 15 Prozent Ent-wicklungszeit und 150 000 EUR Entwicklungskosten eingespart werden.

© Fraunhofer IPA
Mit dem neuen Verfahren kann das Verlaufsergebnis aus den Lackeigenschaften schnell, automatisiert und ohne aufwendige Lackierversuche vorhergesagt werden.

Der Lackfilmverlauf zählt zu den wichtigen Kriterien bei der optischen Bewertung der Beschichtungsqualität. Bei unvollständigem Verlauf weist die Lackschichtoberfläche nach der Trocknung eine mehr oder weniger starke »Orangenhautstruktur« auf. Nach Zahlen des Verbands der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie beträgt der jährliche Umsatz des Markts für Lacke, für die der Kunde eine möglichst schwach ausgeprägte Orangenhautstruktur fordert, allein in Deutschland ca. 1,5 Milliarden Euro.

Fließverhalten variiert während des Verlaufs

Unter den Lackeigenschaften hat das Fließverhalten den größten Einfluss auf den Verlauf. Für die meisten Industrieanwendungen soll der Lack einerseits so dünnflüssig sein, dass er sich leicht auftragen lässt, andererseits muss der entstehende Film so dickflüssig sein, dass er von geneigten Flächen nicht abläuft. Um diese gegensätzlichen Eigenschaften erfüllen zu können, besitzen die meisten industriellen Lacke ein sehr komplexes Fließverhalten mit scher- und zeitabhängigen viskoelastischen Eigenschaften. Die Fließeigenschaften dieser Lacke können sich während des Verlaufens allmählich von wässrig-dünn zu wackelpudding-gelartig wandeln. Weil sich der verlaufende Lackfilm an die zurückliegende starke Scherung während des Auftragens »erinnert«, ändern sich seine Fließeigenschaften nicht schlagartig, sondern allmählich. Man kann deshalb auch von »Gedächtnisflüssigkeiten« sprechen.

Verlaufsvorhersage für alle Lacke aus den Lackeigenschaften

Die in der Industrie üblichen Methoden zur Messung des Fließverhaltens liefern keine Daten, mit denen im Vorhinein beurteilt werden kann, wie ein Lack mit komplexem Fließverhalten verlaufen wird. Mit dem am IPA entwickelten neuartigen Mess- und Auswerteverfahren kann erstmals für alle Lacke aus den Lackeigenschaften vorhergesagt werden, wie schnell und wie vollständig sie verlaufen. Dazu können die Fließeigenschaften gemessen und automatisiert in eine Verlaufsvorhersage umgewandelt werden.

Wettbewerbsvorteil bei der Lackentwicklung

Das Verfahren ist besonders für Lackhersteller relevant, die während der Lackentwicklung das Verlaufsverhalten ihrer Lacke optimieren müssen. Das neue Verfahren beschleunigt die Lackentwicklung, indem Lackierversuche eingespart und verlaufsbeeinflussende Rohstoffe gezielter eingesetzt werden können. Während nach dem bisher üblichen Vorgehen mit Lackierversuchen ein halber Tag von der Lackherstellung bis zum Verlaufsergebnis vergeht, kann diese Zeit mit dem neuen Verfahren auf 15 min verkürzt werden. »Nach eigener Erfahrung bei der Lackrezeptentwicklung gehen wir davon aus, dass die Gesamtentwicklungszeit eines Lacks um 15 Prozent verkürzt werden kann. Bei einer durchschnittlichen Entwicklungszeit von drei Jahren bedeutet dies eine Beschleunigung um 5,4 Monate – ein Zeitvorteil, der beispielsweise bei der Einführung neuer Farben für Automobile einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil bedeutet«, informiert Entwickler Fabian Seeler. Nach einer Beispielrechnung des IPA können zusätzlich Kosten von durchschnittlich 150 000 € pro Lackentwicklung durch Verzicht auf Lackierversuche eingespart werden. Das IPA wird die Charakterisierung von Lacken mit dem neuen Verfahren zunächst als Dienstleistung anbieten. Im zweiten Schritt soll die Mess- und Auswertesoftware auch direkt an Kunden vertrieben werden.

Konkrete Erleichterungen für die Rezeptentwicklung sind:

 

  • Es lassen sich Unterschiede im Verlaufsverhalten zwischen verschiedenen Rezeptvarianten ohne Lackierversuche automatisiert vorhersagen.
  • In Lackierversuchen erhaltene Verlaufsergebnisse können mit den in neuartiger Weise gemessenen Fließeigenschaften begründet werden.
  • Es lässt sich ableiten, wie die Fließeigenschaften verändert werden müssen, um die Oberflächenstruktur einer gewünschten Struktur anzunähern – kurz- und langwellige Oberflächenstrukturen verlaufen bei viskoelastischen Lacken mit einer unterschiedlichen effektiven Viskosität!
  • Die Reproduzierbarkeit des neuen Verfahrens ist größer als die von Lackierversuchen.
  • Es wird erkennbar, welchen Anteil die thixotrope Strukturerholung (steuerbar z. B. über Rheologieadditive) und die Verdunstung (steuerbar z. B. über die Luftfeuchtigkeit beim Ablüften und die Löse-mittelauswahl) jeweils an der Veränderung der Fließeigenschaften während des Verlaufens haben.